Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Kwame Anthony Appiah: Identäten. Die Fiktion der Zugehörigkeit

Betrachtet man die eigene Persönlichkeitsentwicklung, stellt sich unvermeidlich und immerwährend die Frage: “Wer bzw. was bin ich?” Gehen wir nicht auf die semantische Klärung der beiden Fragewörter ein, sondern halten wir ein mögliches Antwortspektrum vor Augen: Große Schwester. Sudetendeutsche. Asexuell. Bürgerlich. Sachbearbeiterin. Weiß. Alleinerziehend. Vegetarierin. Mitte 40. Buddhistin. (Mensch?)

 

Unschwer zu erkennen und rational verständlich, dass wir die Eingangsfrage in Kategorien beantworten und in eben diesen auch denken. Kwame Anthony Appiah hat in seinem Buch dieses Kategoriedenken essayistisch untersucht und für die Leserschaft anschaulich und lebensnahe dargelegt. Die Hauptforderung des Philosophen lautet, die Kategorien, denen unser Denken und Fühlen anhaftet, neu zu gestalten. Sie seien überholt, da sie sich auf gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Zustände stützen, deren Mechanismen zur heutigen Zeit nicht mehr greifen.

 

Der Autor betont dabei, dass die Kategorien als solche nicht abgeschafft werden sollen; sie können es gar nicht. Er illustriert – oft auch an der eigenen Person – das dem Ich identitäre Zuweisungen auch durch gruppendynamische Effekte von außen zugeteilt werden. Die Ursprünge dieses Schubladendenkens und des Zugehörigkeitsgefühls zeigt Appiah kulturhistorisch kurzweilig an unterschiedlichen, um den ganzen Globus verteilten Beispielen auf.

 

Die Quintessenz seiner Überlegungen ist keine bahnbrechende Neuheit, sondern fällt auf gesunden und rationalen Menschenverstand und humanistisches Empfinden zurück. Doch in einer Zeit, in der die eigene Umwelt mehr und mehr davon geprägt wird, dass es wichtiger ist, Recht zu behalten als Recht zu haben, ist eine klare, sachliche, logische und fundierte Herleitung und Auseinandersetzung einer Thematik solide Basis für Diskussionen. Diesen Diskussionen muss die Kraft innewohnen, Dogmen, Meinungsmache und Propaganda zu widerstehen, um die gesellschaftliche Entwicklung auf einen – philosophisch betrachtet – guten Weg zu bringen.

 

Der Autor seziert förmlich in sechs großen Kapiteln die Kategorisierungen des Geschlechtes, der Religion, der Nation, der Hautfarbe, der Klasse und der Kultur. Im 7. Kapitel fasst er seine Ausführungen zusammen und zeigt nochmals die Verflechtungsdynamiken dieser Identitäten miteinander auf. Er plädiert schließlich relativ offen für den kosmopolitischen Bürger, welcher sich beispielsweise nicht an die Auslegung heiliger Schriften klammert, sondern seine Religion in praktischem Handeln lebt. Er lebt nicht in Nationen, sondern gehört einer Zivilisation an, und versteht die kulturelle Vielfalt als großes, organisches Ganzes.

 

Die Identitäten, die wir für unser Zusammenleben benötigen, sind dem Wandel unterlegen. Nur durch Veränderungen können wir sie bewahren. Sie sind notwendig, um uns selbst in eine soziale Struktur einzuordnen und begegnen uns auf kleiner, persönlicher Ebene (bspw. in der gesellschaftlichen Stellung unserer Freunde, Partner, Arbeitskollegen) wie auch auf großer, weltpolitischer Bühne (bspw. der Argumentationsbegriff des “Westens”). Da sie durch eine objektive und subjektive Komponente “geschaffen” werden, liegt es in unserer Hand, diese identitätsstiftenden Kategorien zu definieren. Praktisches Handeln gibt also Antwort auf die Eingangsfrage “Wer bzw. was bin ich?”

 

(Mensch!)

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