Rezension: Inge Beer – Spuren der Unmenschlichkeit

Rezension: Inge Beer – Spuren der Unmenschlichkeit

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Inge Beer: Spuren der Unmenschlichkeit

Die menschliche Wahrnehmung ist, schon rein biologisch bedingt, selektiv. Was im Kleinen für den Menschen gilt, trifft auch im Großen für Staat und Gesellschaft zu. Während 2020/2021 hauptsächlich die unmittelbaren und kurzfristigen Folgen der Corona-Restriktionen medial verbreitet wurden, fanden Diskussionen und Prognosen zu den indirekten Langzeitfolgen kaum Beachtung.

 

Die Autorin Inge Beer hat mit dem vorliegendem Buch über 20 Beiträge von Menschen gesammelt, deren Leben durch die Maßnahmen auf den Kopf gestellt wurden. Berichtenswert sind diese Geschichten, da ihr Blickwinkel durch das bürgerliche Spektrum reicht: Seien es Ärzte, Lehrer, Pendler, (alleinerziehende) Eltern, Kinder oder Ältere, seien sie sozial abgesichert oder körperlich bzw. geistig beeinträchtigt – sie alle gehören zu unserer Gesellschaft und haben mit ihren individuellen, aus den staatlichen Vorgaben hervorgegangenen Problemen zu kämpfen.

 

Frau Beer schildert die Schicksale in Kurzberichten, die, auf den Informationen und Fakten basieren, welche die Betroffenen der Autorin zur Verfügung gestellt haben. Dabei verfasst die Autorin die Beiträge verbal betont neutral; emotional wird der Leser allein durch die Imagination der Geschehnisse und der Prozesse berührt. Obwohl die so gewählten Berichte dadurch an Sachlichkeit und Klarheit gewinnen, verliert gleichzeitig die Sprache leider an literarischer Strahlkraft.

 

Dennoch gelingt der Autorin durch diese Art der Verarbeitung und Dokumentation auf geschickte Weise, den Leser selbst die Abwägung zu überlassen, inwieweit die Corona-Maßnahmen unter den Aspekten von Ethik und Moral wirksam, angemessen und verhältnismäßig sind bzw. waren. Der Titel „Spuren der Unmenschlichkeit“ lässt den Rezipienten mit dem Gefühl zurück, dass, sollte der Staat die Krise für beendet erklären, wohl tatsächlich die Maßnahmen Spuren hinterlassen haben werden; für alle der im Buch Vorgestellen und für eine Vielzahl Unsichtbarer sicher unauslöschliche und nicht wieder gut zu machende.

 

Frau Beers Buch wird somit zu einem wertvollen Zeitdokument, denn die Kernprobleme, welche die Schwachen und Ausgegrenzten einer Gesellschaft betreffen, werden auch mit der nächsten Krise ähnlich sein. Diese Probleme und die mit ihnen hadernden Menschen ernst zu nehmen, gehört auch zur gesellschaftlichen Gesamtverantwortung. „Spuren der Unmenschlichkeit“ hilft, sie überhaupt erst einmal zu erkennen.

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Robert Pfaller: Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form

Robert Pfaller: Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Robert Pfaller: Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form

In seinem Buch “Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form” zeigt der Philosoph Robert Pfaller, in welch vielfältigen Lebensbereichen Formen zum Einsatz kamen (und stiefmütterlich heutzutage noch kommen). Er verfolgt unterschiedliche Ansätze, um Inhalt und Form zu definieren und streift dabei die Kunst ebenso wie die Mode, die Politik oder das soziale Zusammenleben.

 

Form und Inhalt sind nicht nur zusammengehörig, sie bedingen einander. Dabei ist die Form aber nicht bloßer Ausdruck von Ästhetik oder notwendiger Struktur; sie erweist sich ebenso als Berührungspunkt zum Rezipienten wie als konkretes Handlungselement der Sache. Das erklärt der Autor, indem er z.B. den Formalismus des Witzes als solchen beleuchtet oder auf soziale Höflichkeits- und Umgangsformen verweist. Kunst, besonders solche, die politische Ausdruckskraft haben soll, benötige daher eine geeignete Form, damit sich ihre Wirkung gezielt entfalten kann. Pfaller zieht dafür oft Beispiele aus der Fotografie hinzu und versucht, an diesen die Koexistenz zwischen Form und Inhalt, Wahrheit und Lüge sowie Schein und Sein zu vermitteln.

 

Obwohl die Sprache des Buches sehr klar und verständlich genutzt wird, verweist der Autor sehr oft auf Anektoden oder Begebenheiten, welche dem gewöhnlichen Leser ohne Kenntnis der Werke klassischer Philosophie als vollendet präsentiert werden. Zwar wird der Leser durch einen roten Faden durch die Kapitel geführt und immer wieder auf die Kovalenz von Inhalt und Form zurückgebracht, doch ergibt sich durch die Wahl der Beispiele nur eine vage Ahnung, welche Bedeutung in Pfallers Ausführungen verborgen liegt. Man hofft auf praktischere Beispiele, die sich nicht innerhalb weniger Zeilen abhandeln lassen und die mehr Substanz haben als zwei Kalauer oder drei Schwarz-Weiß-Fotografien. Besser wäre es möglicherweise gewesen, mehr an der Sprache selbst, welche die Rezipienten durch das Medium Buch automatisch verwenden, die eigenen Positionen zu festigen.

 

Da es sich um ein theoretisches Konstrukt handelt, welches aufruft, die Form wieder ins Leben zu integrieren – denn der Autor ist der Überzeugung, dass dem Inhalt in jeder Hinsicht seit Jahrzehnten der Vorzug gegeben wird – dauert es auch etwas, die Ausführungen selbst zu erfassen und zu durchdenken. Ich habe, nachdem ich dass Buch das erste Mal gelesen hatte, nochmal anfangen müssen – beim zweiten Mal hatten sich mir die Ideen Pfallers dann erschlossen. Gewissheit hatte ich allerdings erst, nachdem ich selbst, den Eingebungen der Lektüre folgend, mehr auf die Form in meinen Texten geachtet habe. Wer also nicht musiziert, modelliert, literarisch schreibt oder sich im Bereich der darstellenden Künste bewegt, wird vermutlich Schwierigkeiten haben, direkten Nutzen aus dem Buch für eigene künstlerischen Arbeiten zu ziehen.

 

Dennoch spannt Pfaller auch einen größeren, gesellschaftlichen Bogen. Ohne Rücksicht auf die Form werden wir das verlieren, was wir als Anstand und Sitte kennen, werden wir uns in unserer Empathiefähigkeit einschränken und den öffentlichen Raum verlieren. Der öffentliche Raum ist allerdings der Ort, wo wir die kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften unserer Spezies entwickelt und verfeinert haben. Mit dem Verlust der Form und ihrer spielerischen Komponente werden wir auch ein großes Stück unserer Freiheit verlieren.

 

Trotz der oben genannten Schwächen ist die Lektüre für alle geeignet, die bei der Erschaffung von Kunst keinem reinen Formalismus frönen wollen. Robert Pfallers Betonung der Form kann helfen, die Interpretation und Rezeption der Dinge in einem neuen Licht (wieder) erstrahlen zu lassen.

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Franz Keller: Ab in die Küche. Wie wir die Kontrolle über unsere Ernährung zurückgewinnen

Franz Keller: Ab in die Küche. Wie wir die Kontrolle über unsere Ernährung zurückgewinnen

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Franz Keller: Ab in die Küche. Wie wir die Kontrolle über unsere Ernährung zurückgewinnen

 „Ab in die Küche“ titelt Franz Keller in seinem neuesten Buch. Dabei präsentiert sich der Haupttitel wie die Geschmackskombination eines raffinierten Gerichts: Mit Humor gewürzt, unaufgeregt einfach und natürlich, dennoch mit etwas moralischer Strenge als Beigeschmack.

 

Keller, dessen Lokale und Restaurants mit Michelin-Sternen prämiert wurden, setzt seinen eingeschlagenen Weg der Rückkehr zu Genuss und Qualität fort. Seine Forderungen nach artgerechter Tierhaltung und der Abkehr von großindustriell hergestellten Produkten klingen nicht neu, stoßen sie doch ins gleiche Horn vieler Tier- und Verbraucherschützer. Doch möglicherweise unterstreicht die Tatsache, dass hier ein Sternekoch, quasi ein „Halbgott in Küchenweiß“, seine Meinung kundtut und Stellung bezieht, die Dringlichkeit die Verhältnisse zu ändern. Die Wirkung bleibt nicht aus, gewiss auch, da der Autor sich privat öffnet und der Koch Keller dem Mensch Keller stellenweise weicht.

 

Dieser Mensch lenkt unser Augenmerk auf skandalöse Zustände im Gastronomiebetrieb und präsentiert uns die Rückzugsmöglichkeit der eigenen Küche. Da Kochen auch eine Kulturtechnik sei, solle wieder aus eigener Kraft und Kreativität ein Stück Lebensqualität und Verantwortung für das eigene Leben zurückerobert werden. 

 

Manch Leser könnte auf die Idee kommen, dass hier „Brust oder Keule“, die 1976 erschienene Satire Claude Zidis literarisch fortgeführt wird. Dem ist nicht so: Kellers Ausführungen sind immer grundlagenbetonend und bodenständig. Getreu dem Titel seiner Autobiografie „Vom Einfachen das Beste“ möchte er auch den Leuten Mut geben, die sonst einen großen Bogen um Ofen und Herd machen.

 

Dies gelingt ihm nicht auf ganzer Linie. Obwohl die Gestaltung des Buches durch die z.T. an Tafelbilder erinnernden Sprüche genial einprägend ist und Keller einige Rezeptideen beilegt, verfällt er jedoch in den allgemeinen Küchenjargon. Natürlich, die Freude am Kochen wird auch durch das Experimentieren getrieben, doch weiß der Teenager auf Junkfood-Trip wirklich etwas mit „Zwiebeln anschmelzen“ anzufangen?

 

Dennoch ist Kellers Buch eine erfrischende und notwendige Bejahung ökologisch sinnvoller und zukunftsträchtiger Entwicklungen. Danken wir ihm, dass in unseren Küchen wieder Genuss einkehren soll, dass sich Geschmack und Nachhaltigkeit verbinde – und kommen sie „nur“ zum selbst gemachten Fleischsalat zusammen. Das Essen ist und bleibt ein zentraler Bestandteil unseres Lebens – somit hat jeder Grund genug sich damit, und sei es nur aus Eigeninteresse, auseinanderzusetzen.

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Horst-Eberhard Richter: Flüchten oder Standhalten

Horst-Eberhard Richter: Flüchten oder Standhalten

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Horst-Eberhard Richter: Flüchten oder Standhalten

Der namenhafte Arzt und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter stellt in seinem Werk „Flüchten oder Standhalten“ einige zentrale Aspekte menschlicher Verhaltensweisen dar. Allen voran beschreibt er beispielhaft, mit welcher Ursache und Wirkung Isolationsprozesse stattfinden und Ängste im Individuum geschürt werden. Sein Werk dient ebenso als Informationsquelle wie als Anleitung, eigenen oder fremden Sehnsüchten nach sozialer Teilhabe zu entdecken, zu verstehen und zu akzeptieren.

 

In 14 Kapiteln veranschaulicht er die Entstehung von vornehmlicher Isolationsangst, beginnend beim Individuum bzw. der Familie und beschreibt, in welchen Formen diese Angst von einer Person zur anderen weitergegeben wird. Diese Transfermechaniken weitet er später auf übergeordnete Machtpositionen aus; auf Vorgesetzte oder Autoritäten bzw. stellvertretende Institutionen. Ferner diskutiert und reflektiert der Autor, inwieweit der Mensch als Interessenobjekt sozialer Berufe, z.B. im Pflegedienst, der Seelsorge oder dem Schulwesen, aus dem Fokus der Arbeitstätigen gerückt wird, falls bürokratische Prozesse von oben bzw. dogmatische Machtstrukturen greifen.

 

Das Buch ist stringent geschrieben und verfolgt eine logische Argumentationskette. Die beispielhaften Erläuterungen heben den sonst eher wissenschaftlich ausführenden Stil auf ein verständliches Niveau. Obwohl sich den Themen oft psychoanalytisch genährt wird und wissenschaftliche Referenzen die Hypothesen stützen, ist das vorliegende Werk für alle mit gut ausgeprägtem Allgemeinwissen (S. Freuds Theorie des Über-Ichs sollte bekannt sein) zugänglich. Leider hat das Lektorat eine ganze Reihe von Rechtschreibfehlern übersehen, die bei einem solch qualitativ hochwertigen Autor und Produkt nicht entschuldbar sind.

 

Im Ganzen kann der Rezensent allen Leuten, die in sozialen Berufen tätig sind, die Lektüre empfehlen. Sie dient dazu, sich darüber klar zu werden, warum man die Arbeit mit und am Mensch gewählt hat; hilft in unsicheren Zeiten, sich auf diese Motivation zurückzubesinnen – und zeigt die Möglichkeit, basisnahe, übergreifende Arbeit durchzuführen. Wir sollten uns immer wieder vergegenwärtigen, dass echte Partizipation für ein menschenwürdiges Zusammenleben auf allen Ebenen angestrebt werden muss.

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Necla Kelek: Die unheilige Famile

Necla Kelek: Die unheilige Famile

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Necla Kelek: Die unheilige Famile

Die Soziologin und Frauenrechtlerin Necla Kelek entwickelt in ihrem Buch „Die unheilige Familie“ weitreichende Gedankengänge zu einem stabilen, demokratischen Zusammenleben zwischen „Orient & Okzident“. Grundlegend für die Entwicklung von mehr Gleichberechtigung und größerem Schutz Bedürftiger (in erster Linie Frauen und Kinder) ist für sie das Verständnis islamisch geprägter Familienbilder. Aus diesem konzipiert sie, indem sie soziale Prozesse analysiert, Thesen zur Ausweitung des demokratischen Zusammenlebens und zur Stärkung der Menschenrechte.

 

Die titelgebende „unheilige Familie“ definiert sie als patriarchalisch-dominanten und religiös legitimierten Willkür männlicher Familienmitglieder über Frauen und Kinder. An zehn Familiengeschichten zeigt sie, wie die geistig überalterte und in fanatischer Angst vor Machtverlust getriebene männliche Domäne das soziale Rückgrat eines politischen Islams bildet.

 

Die Autorin versteht es, mit klarer logischer Schlussfolgerung aus ihren Analysen die soziale Trennung, Ghettoisierung und Isolation Migrierender in der westlichen Welt zu veranschaulichen und zu begründen. Als stringent verlaufende Kette veranschaulicht Frau Kelek die Probleme, die sich aus der starren und unzeitgemäßen Auslegung des Korans und den Überlieferungen des Propheten ergeben: Angefangen bei der Herabwürdigung, quasi Entmenschlichung von Frauen und Mädchen zum Besitz-Objekt, referiert sie über die unterschiedlichen Ehe- und Familienverständnisse. Sie stellt dar, wie die westliche Welt dazu beiträgt, Parallelgesellschaften Raum zu geben, somit weiter Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung schürt und damit Demokratie und Grundrechte gefährdet.

 

Im folgenden ist ein Auszug des Inhaltsverzeichnis wiedergegeben:

 

  • Dschāhilīya – die Lage der Frauen in der vorislamischen Zeit
  • Die „Herrenreligion“ – Max Webers Charakteristik des Islams
  • Die Frau als Beute
  • Ehe und Recht
  • Das Recht auf körperliche Unversehrtheit
  • Kontrolle über Kopf und Körper
  • Familiengeschichten und Flüchtlingsgespräche
  • Die dysfunktionale Familie – oder Fluchtursache Patriarchat
  • Familie, Frauen, Integration
  • Forscher auf falscher Fährte
  • Die Positionen einiger Islamverbände zu Ehe und Familie
  • Frauenrechte und Kinderschutz – ein langer Kampf
  • Familien-, Frauen- und Kinderrechte: Was getan werden muss

Frau Keleks erster Verdienst besteht darin, über bestehende Verhältnisse aufzuklären. Dies gelingt ihr mit der Abbildung realer Familienschicksale. Indem sie Verstehen und Verständnis über Motive, Situation und soziale Vorprägung skizziert, ermöglicht sie uns, mit den erhaltenen Informationen in Diskurs und Debatte zu gehen. Ein einprägsames Credo im Buch lautet: „An den Rechten der Schwachen misst sich die Demokratie.“ Mit der „unheiligen Familie“ zeigt Frau Kelek, dass die Notwendigkeit zum Handeln nicht nur präsent ist – in Hinblick auf die weitere globale Entwicklung ist sie akut.

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