Giuseppe Gracia „Auslöschung“

Giuseppe Gracia „Auslöschung“

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Buchcover: Giuseppe Gracia "Auslöschung"

Rezension: Giuseppe Gracias „Auslöschung“ – eine tragische Liebesgeschichte bildet das Fundament einer gesellschaftlichen Analyse

Überblick über Handlung und Thema

Giuseppe Gracias Roman „Auslöschung“, erschienen 2024 im Fontis Verlag, ist eine tragische Liebesgeschichte mit tiefgehender Gesellschaftsanalyse. Die Handlung liegt in Form von Erinnerungen vor, welche der namenlose Hauptcharakter schildert bzw. berichtet. Obwohl die Geschichte anscheinend nicht-linear erzählt wird, lässt sie sich wie folgt zusammenfassen:

Der Protagonist ist als Journalist und Schriftsteller tätig. Beruflich publiziert er u. a. zur Beziehung des Islam und des westlichen Europas. Parallel dazu schließt er eine Ehe mit seiner Jugendliebe Veronika. Während der Hauptcharakter sich in den nächsten Jahren beruflich mit politischen Vorwürfen konfrontiert sieht, wird Veronika durch ihr Arbeitspensum allmählich in die Verzweiflung getrieben. Dies endet im Selbstmord auf einem Bahngleis. Der Protagonist kommt über den Verlust nicht hinweg und sucht in seiner Sinnkrise Antworten, z. T. in der christlichen Religion. Eines Tages hält er sich auf einer Abendveranstaltung auf, die von islamistischen Terroristen übernommen wird. Die Anklage und Exekution der Gefangen soll live in Fernsehen und Internet übertragen werden. Unter den Geiseln glaubt der Journalist, Veronika wiederzusehen – in seinen Gedanken vermischt sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, Erinnerungen mit Sinneseindrücken.

Gracia baut in seinem Roman unterschiedliche Handlungsstränge zusammen: Die Geschehnisse um die Geiselnahme, die berufliche Entwicklung des Hauptcharakters und seine Begegnungen mit der Religion. Leitmotiv und den Roman tragend ist allerdings die Liebesgeschichte, deren Anfänge, Liebesglück, Ehe, Niedergang, Zerrüttung durch den Selbstmord und die Einsamkeit danach auch das Hauptgerüst der Handlung bilden.

Stil und Wirkung

Mit geringer Personalbesetzung erschafft der Autor eine Geschichte, die auf mehreren Ebenen Spiegel vorhält: Von der Frage des eigenen, persönlichen Lebenswertes zur Leistung und Funktionalität einer Gesellschaft, vom Vermögen oder Unvermögen der Religion und dem Zusammentreffen unterschiedlicher Werte und Moralvorstellungen.

Charakteristisch für den Roman sind seine Metaebenen. Durch die Vermengung von Gegenwart und Erinnerung ist weder dem Erzähler noch dem Leser klar, ob gerade eine Traumsequenz, die „reale“ Handlung oder eine Theaterinszenierung Lichtenbergers, Bruder Veronikas und Anlaufstelle des Protagonisten für Ratschläge, abläuft. Dies ist einerseits kunstvoll, da es verdeutlicht, dass das Leben als solches durch Beziehung und Verflechtung nicht vereinzelt betrachtet werden kann, ohne das Gesamtbild zu sehen; anderseits erschwert dieser Umstand eine logisch-schlüssige Handlungschronologie nachzuvollziehen. Letzteres wirkt sich auch auf den Spannungsbogen aus: Spannung und Konfliktpotential sind im Roman enthalten, doch bauen sie sich nicht immer höher und stärker auf, sondern glimmen, entzünden sich und züngeln als kleine Schwelbrände, denen immer wieder aufs Neue begegnet werden muss.

Gracias Sprache ist in den Berichten des Hauptcharakters sehr klar und zumeist schnörkellos. Die Wiedergabe der Ereignisse wirkt, unterstützt durch den reinen Ich-Erzähler, nüchtern, glänzt allerdings an den richtigen Stellen mit hervorragenden Metaphern, z. B. bewundert der Protagonist die Teilnehmer der Abendveranstaltung um „[…] ihre Herrenausstatter-Anzüge ebenso wie die eng anliegende Vulgarität ihrer Seidenkleider.“ Die Sprache ist den Milieus, in welchen der Erzähler verkehrt, angemessen und passt sich situativ an. Dies schöpft der Autor wahrscheinlich auch aus seinem beruflichen Repertoire, da Gracia auch Publizist und Kommunikationsberater ist. Seine Erfahrungen könnte er genutzt haben, um die Charaktere und deren Vorstellungen zu modellieren.

Gracia verwendet außerdem eine starke Symbolik: Der Zug, der Veronika aus dem Leben ist, fährt zerstörerisch weiter, ein drohendes Unheil, rasend, nicht aufzuhalten. Er durchbricht die Schranken der Zeit und der Erzähllogik mit kalter, schweizerischer Pünktlichkeit. Auch der Titel „Auslöschung“ ist präzise und klug gewählt und bezieht sich nicht nur auf die terroristischen Motive, das System des Westens zu vernichten, sondern auch auf den Selbstmord Veronikas und die Fixpunkte, welche jeder einzelne in der Geschichte, sei sie noch so klein, hinterlässt.

Ein absurder Höhepunkt ist die Situation der Live-Übertragung der Geiselnahme, der Anklage und Exekution. Terroristen und Opfer werden gefilmt, stehen im (Bühnen)Licht der Aufmerksamkeit eines weltweiten Internetpublikums – alle sind Betrachter und Beobachter zugleich, niemand handelt. Dies ist womöglich die Stelle, in welcher sich der wahre Antagonist – das Böse im Menschen – offenbart. Dies würde auch zum fragmentarischen Wesenszug des Romans passen.

Fazit: Für wen lohnt sich der Roman?

Zusammenfassend bewertet der Rezensent den Roman als eine kunstvoll verwobene, tragische Liebesgeschichte, welche zeigt, wie sehr das Individuum durch gesellschaftliche Erwartungen, kulturelle Vorstellungen und religiöse Überzeugung, aber auch deren Heilsuchung, beeinflusst wird und fortwährend seinen Platz suchen muss. Wer gewöhnliche Unterhaltung möchte, sollte sich anderen Büchern zuwenden. „Auslöschung“ bietet eine ungewöhnliche Erzählweise und viele Interpretationsmöglichkeiten (z. B. die durchaus ambivalente Rolle Lichtenbergers), auf die man sich einlassen können muss. Wer, wie Theatermensch Lichtenberger es gern sehen würde, nach „[…] dem Schlussvorhang nicht einfach klatschen und unbehelligt nach Hause gehen kann, sondern vor dem Kopf gestoßen […]“ sein möchte, sprich, über das Gelesene nachdenken und reflektieren möchte, dem sei diese Lektüre empfohlen.

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