Matthias Matussek – Armageddon

Matthias Matussek – Armageddon

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Buchcover: Matthias Mattusek "Armageddon"

Rezension: Mattias Matussek „Armageddon“ – die Antwort auf den modernen Todeskult lautet weiterhin Glauben

Überblick über Handlung und Thema

Matthias Matusseks Roman „Armageddon“, erschienen 2023 im Europa Verlag, behandelt Erlebnisse und Begegnungen eines gesellschaftspolitisch verfemten Publizisten, welcher nach einer indirekten Morddrohung erneut in Lebensgefahr schwebt. Das Thema des Niedergangs des christlichen Glaubens und der in ihm eingebetteten Tugenden und Werte wurde dabei hintergründig und feinfühlig in diesen Thriller eingewoben.

Die Handlung setzt in den frühen 20er Jahren ein. Richard „Rico“ Hausmann war einst Übersee-Korrespondent, Spiegel-Kulturchef, Redakteur bei Die Welt – doch nach und nach kam er in den Augen der Gesellschaft „vom Weg ab“. Mittlerweile wird er bestenfalls als störrischer Rechtskonservativer angesehen; Mitglieder der Antifa betiteln ihn schlichtweg als „Nazi“. Hausmann, der sich in den ländlichen Raum zurückgezogen hat, stößt mit einem willfährigen Knecht der „grünen Junta“, wie er das derzeitige Establishment in Deutschland betitelt, zusammen und bangt nun um seine Sicherheit. Während er in Erinnerung sinnierend anhand seiner Bekanntschaften zu den großen Medienmachern und ehemaligen Arbeitskollegen den allgemeinen Werteverfall der Republik diagnostiziert, mehren sich die Anzeichen dafür, dass der Tag des jüngsten Gerichts näher rückt. Der Tod der Welt, der Tod der Gesellschaft, der Tod des Individuums – sie scheinen ein von der Massen zelebriertes Sehnen geworden zu sein – und Hausmann wird bewusst, wie allein und sterblich er diesem Kult gegenübersteht.

Matussek hat seinen Roman in drei Teile gegliedert und damit eine Art literarisches Triptychon geschaffen. Während der erste Teil die Figur des Rico Hausmann dem Leser näher bringt, thematisiert der zweite das Potential des Lebens mittels kulturellen Errungenschaften, ohne den Tod als Erlösung auszusparen. Der dritte Teil schließt mit dem titelgebenden „Armageddon“. Der Aufbau kann auch als klassischer Dreiakter gesehen werden, wobei der zweite Teil den Höhepunkt als eigentliche Entscheidungsschlacht beinhaltet.

Stil und Wirkung

„Armageddon“ ist ein Roman mit einer besonderen Hauptcharakter. Der Autor hat autobiografische Erlebnisse und reale Ereignisse verarbeitet und sich als Alter Ego zum Protagonisten der Geschichte gemacht. Damit hat die Figur des Rico Hausmann nicht nur ein brillantes Kulturgedächtnis geerbt: Der „gefallene“ Star-Redakteur poltert im ersten Buchabschnitt mit Hochgeschwindigkeit durch Erinnerungen an Ereignisse und Weggefährten; ein Potpourri an Namen und Informationen, übervoll und leider etwas abschreckend für alle Leser, die nicht die Geflechte und Geschehnisse der Medienbranche kennen. Aber dem Autor geht es vor allem um Wahrhaftigkeit. Daher mag die Lesbarkeit des Romans an dieser Stelle zwar etwas zurückstecken; er gewinnt aber durch einen einfühlsamen und menschlichen Hauptcharakter an Authentizität. Dieser erste Teil ist zudem wichtig, um die Figur Hausmann auf die angemessene Fallhöhe zu heben, aus welcher er die moderne Welt sieht, ihre Veränderung bewertet und den Kampf dagegen aufnimmt.

Das Erzähltempo verlangsamt sich zum Ende des ersten Teils und hält diese Geschwindigkeit in den anderen beiden Abschnitten bei – hier geschieht es auch, dass die Erzählstimme noch einfühlsamer wird und auch Raum bekommt, ihre geistreichen Qualitäten zu zeigen, so z. B. wenn über das Wesen der Lüge doziert wird.

Stilistisch ist Matussek sattelfest. In den kurz gehaltenen Kapiteln verlängert er beispielsweise beim Wechsel in den Erzählstrang der Antagonisten jederzeit pointiert die Spannungskurve. Die auftretenden Gegenspieler sind dabei ebenso komplex wie das Leben und stehen mit ihrer politischen oder philosophischen Verortung für andere, ebenso berechtigte Lebensentwürfe.
Die im Hintergrund alles zusammenhaltende Frage der Religiosität äußert sich, wie das wiederkehrende Motiv des Todes, in Metaphern und Andeutungen. So beschreibt Matussek schon zu Beginn in der einsamen Landschaft Norddeutschland das schwarze Skelett der Eichen und Buchen. Durch den Mund seiner Figur schöpft er zudem aus seinem kulturellen Fundus: „Literatur, Musik, Religion“ ist der gängigste Dreiklang, welcher, raffiniert kombiniert, zu Hausmanns vernichtenden Urteilen avanciert: „Aber Jack Kerouac, dem Katholiken und Buddhisten, ging es um die Wahrheit der Beatgeneration, nackt bis auf die Knochen, hier in Stuckrad-Barres Zeilen dagegen roch man nichts als Gegrinse und Gucci, hier sah Rico all diese rhetorischen und optischen Manöver der Ausrufezeichen und Großbuchstaben im Dienst eines Großverrats, es war, als hätte Judas Kerouacs Schreibmaschine übernommen.“

Gegen Ende des Buches fallen kleinere Tippfehler auf, mal wird ein Name falsch verwendet. Das sind Patzer, die ärgerlich sind und dem Lektorat hätten auffallen müssen, sie beeinträchtigen aber nicht die Botschaft und Wirkmächtigkeit der Romanidee, die Lebensbejahung und die Beziehung zu Gott. Denn nur in Beziehung mit anderen Menschen (Lebenden wie auch Toten) formt, festigt und besteht ein Charakter.

Fazit: Für wen lohnt sich der Roman?

In „Armageddon“ ziseliert Mattusek durch inneren Monolog seine beruflichen Wegbegleiter, jeder in einer Art kleinen Revuenummer. Dieser anfangs träge Handlungsaufbau kann zuerst abschrecken, entwickelt aber die Hauptfigur und ordnet sie in ein politisches, soziales und gesellschaftliches Umfeld ein. Danach lässt man sich auf die Erzählung ein, schaut, wohin sich die mitunter nur lose verknüpften Ereignisse entwickeln und zu welchem Gesamtbild sie sich formen. Auch ohne in die inhaltliche Tiefe jeder kulturellen Referenz zu gehen, findet der durchschnittliche Leser immer eine Stelle, an welcher er in den heiligen Zorn oder die sanfte Herzensgüte Hausmanns seelisch einstimmen kann. Unser Denken wird dabei vitalisiert – und was gäbe es besseres als dies, um dem spirituellen Weltuntergang aufgrund von Gottlosigkeit entgegenzuwirken?

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Giuseppe Gracia „Auslöschung“

Giuseppe Gracia „Auslöschung“

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Buchcover: Giuseppe Gracia "Auslöschung"

Rezension: Giuseppe Gracias „Auslöschung“ – eine tragische Liebesgeschichte bildet das Fundament einer gesellschaftlichen Analyse

Überblick über Handlung und Thema

Giuseppe Gracias Roman „Auslöschung“, erschienen 2024 im Fontis Verlag, ist eine tragische Liebesgeschichte mit tiefgehender Gesellschaftsanalyse. Die Handlung liegt in Form von Erinnerungen vor, welche der namenlose Hauptcharakter schildert bzw. berichtet. Obwohl die Geschichte anscheinend nicht-linear erzählt wird, lässt sie sich wie folgt zusammenfassen:

Der Protagonist ist als Journalist und Schriftsteller tätig. Beruflich publiziert er u. a. zur Beziehung des Islam und des westlichen Europas. Parallel dazu schließt er eine Ehe mit seiner Jugendliebe Veronika. Während der Hauptcharakter sich in den nächsten Jahren beruflich mit politischen Vorwürfen konfrontiert sieht, wird Veronika durch ihr Arbeitspensum allmählich in die Verzweiflung getrieben. Dies endet im Selbstmord auf einem Bahngleis. Der Protagonist kommt über den Verlust nicht hinweg und sucht in seiner Sinnkrise Antworten, z. T. in der christlichen Religion. Eines Tages hält er sich auf einer Abendveranstaltung auf, die von islamistischen Terroristen übernommen wird. Die Anklage und Exekution der Gefangen soll live in Fernsehen und Internet übertragen werden. Unter den Geiseln glaubt der Journalist, Veronika wiederzusehen – in seinen Gedanken vermischt sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, Erinnerungen mit Sinneseindrücken.

Gracia baut in seinem Roman unterschiedliche Handlungsstränge zusammen: Die Geschehnisse um die Geiselnahme, die berufliche Entwicklung des Hauptcharakters und seine Begegnungen mit der Religion. Leitmotiv und den Roman tragend ist allerdings die Liebesgeschichte, deren Anfänge, Liebesglück, Ehe, Niedergang, Zerrüttung durch den Selbstmord und die Einsamkeit danach auch das Hauptgerüst der Handlung bilden.

Stil und Wirkung

Mit geringer Personalbesetzung erschafft der Autor eine Geschichte, die auf mehreren Ebenen Spiegel vorhält: Von der Frage des eigenen, persönlichen Lebenswertes zur Leistung und Funktionalität einer Gesellschaft, vom Vermögen oder Unvermögen der Religion und dem Zusammentreffen unterschiedlicher Werte und Moralvorstellungen.

Charakteristisch für den Roman sind seine Metaebenen. Durch die Vermengung von Gegenwart und Erinnerung ist weder dem Erzähler noch dem Leser klar, ob gerade eine Traumsequenz, die „reale“ Handlung oder eine Theaterinszenierung Lichtenbergers, Bruder Veronikas und Anlaufstelle des Protagonisten für Ratschläge, abläuft. Dies ist einerseits kunstvoll, da es verdeutlicht, dass das Leben als solches durch Beziehung und Verflechtung nicht vereinzelt betrachtet werden kann, ohne das Gesamtbild zu sehen; anderseits erschwert dieser Umstand eine logisch-schlüssige Handlungschronologie nachzuvollziehen. Letzteres wirkt sich auch auf den Spannungsbogen aus: Spannung und Konfliktpotential sind im Roman enthalten, doch bauen sie sich nicht immer höher und stärker auf, sondern glimmen, entzünden sich und züngeln als kleine Schwelbrände, denen immer wieder aufs Neue begegnet werden muss.

Gracias Sprache ist in den Berichten des Hauptcharakters sehr klar und zumeist schnörkellos. Die Wiedergabe der Ereignisse wirkt, unterstützt durch den reinen Ich-Erzähler, nüchtern, glänzt allerdings an den richtigen Stellen mit hervorragenden Metaphern, z. B. bewundert der Protagonist die Teilnehmer der Abendveranstaltung um „[…] ihre Herrenausstatter-Anzüge ebenso wie die eng anliegende Vulgarität ihrer Seidenkleider.“ Die Sprache ist den Milieus, in welchen der Erzähler verkehrt, angemessen und passt sich situativ an. Dies schöpft der Autor wahrscheinlich auch aus seinem beruflichen Repertoire, da Gracia auch Publizist und Kommunikationsberater ist. Seine Erfahrungen könnte er genutzt haben, um die Charaktere und deren Vorstellungen zu modellieren.

Gracia verwendet außerdem eine starke Symbolik: Der Zug, der Veronika aus dem Leben ist, fährt zerstörerisch weiter, ein drohendes Unheil, rasend, nicht aufzuhalten. Er durchbricht die Schranken der Zeit und der Erzähllogik mit kalter, schweizerischer Pünktlichkeit. Auch der Titel „Auslöschung“ ist präzise und klug gewählt und bezieht sich nicht nur auf die terroristischen Motive, das System des Westens zu vernichten, sondern auch auf den Selbstmord Veronikas und die Fixpunkte, welche jeder einzelne in der Geschichte, sei sie noch so klein, hinterlässt.

Ein absurder Höhepunkt ist die Situation der Live-Übertragung der Geiselnahme, der Anklage und Exekution. Terroristen und Opfer werden gefilmt, stehen im (Bühnen)Licht der Aufmerksamkeit eines weltweiten Internetpublikums – alle sind Betrachter und Beobachter zugleich, niemand handelt. Dies ist womöglich die Stelle, in welcher sich der wahre Antagonist – das Böse im Menschen – offenbart. Dies würde auch zum fragmentarischen Wesenszug des Romans passen.

Fazit: Für wen lohnt sich der Roman?

Zusammenfassend bewertet der Rezensent den Roman als eine kunstvoll verwobene, tragische Liebesgeschichte, welche zeigt, wie sehr das Individuum durch gesellschaftliche Erwartungen, kulturelle Vorstellungen und religiöse Überzeugung, aber auch deren Heilsuchung, beeinflusst wird und fortwährend seinen Platz suchen muss. Wer gewöhnliche Unterhaltung möchte, sollte sich anderen Büchern zuwenden. „Auslöschung“ bietet eine ungewöhnliche Erzählweise und viele Interpretationsmöglichkeiten (z. B. die durchaus ambivalente Rolle Lichtenbergers), auf die man sich einlassen können muss. Wer, wie Theatermensch Lichtenberger es gern sehen würde, nach „[…] dem Schlussvorhang nicht einfach klatschen und unbehelligt nach Hause gehen kann, sondern vor dem Kopf gestoßen […]“ sein möchte, sprich, über das Gelesene nachdenken und reflektieren möchte, dem sei diese Lektüre empfohlen.

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Rezension: Inge Beer – Spuren der Unmenschlichkeit

Rezension: Inge Beer – Spuren der Unmenschlichkeit

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Inge Beer: Spuren der Unmenschlichkeit

Die menschliche Wahrnehmung ist, schon rein biologisch bedingt, selektiv. Was im Kleinen für den Menschen gilt, trifft auch im Großen für Staat und Gesellschaft zu. Während 2020/2021 hauptsächlich die unmittelbaren und kurzfristigen Folgen der Corona-Restriktionen medial verbreitet wurden, fanden Diskussionen und Prognosen zu den indirekten Langzeitfolgen kaum Beachtung.

 

Die Autorin Inge Beer hat mit dem vorliegendem Buch über 20 Beiträge von Menschen gesammelt, deren Leben durch die Maßnahmen auf den Kopf gestellt wurden. Berichtenswert sind diese Geschichten, da ihr Blickwinkel durch das bürgerliche Spektrum reicht: Seien es Ärzte, Lehrer, Pendler, (alleinerziehende) Eltern, Kinder oder Ältere, seien sie sozial abgesichert oder körperlich bzw. geistig beeinträchtigt – sie alle gehören zu unserer Gesellschaft und haben mit ihren individuellen, aus den staatlichen Vorgaben hervorgegangenen Problemen zu kämpfen.

 

Frau Beer schildert die Schicksale in Kurzberichten, die, auf den Informationen und Fakten basieren, welche die Betroffenen der Autorin zur Verfügung gestellt haben. Dabei verfasst die Autorin die Beiträge verbal betont neutral; emotional wird der Leser allein durch die Imagination der Geschehnisse und der Prozesse berührt. Obwohl die so gewählten Berichte dadurch an Sachlichkeit und Klarheit gewinnen, verliert gleichzeitig die Sprache leider an literarischer Strahlkraft.

 

Dennoch gelingt der Autorin durch diese Art der Verarbeitung und Dokumentation auf geschickte Weise, den Leser selbst die Abwägung zu überlassen, inwieweit die Corona-Maßnahmen unter den Aspekten von Ethik und Moral wirksam, angemessen und verhältnismäßig sind bzw. waren. Der Titel „Spuren der Unmenschlichkeit“ lässt den Rezipienten mit dem Gefühl zurück, dass, sollte der Staat die Krise für beendet erklären, wohl tatsächlich die Maßnahmen Spuren hinterlassen haben werden; für alle der im Buch Vorgestellen und für eine Vielzahl Unsichtbarer sicher unauslöschliche und nicht wieder gut zu machende.

 

Frau Beers Buch wird somit zu einem wertvollen Zeitdokument, denn die Kernprobleme, welche die Schwachen und Ausgegrenzten einer Gesellschaft betreffen, werden auch mit der nächsten Krise ähnlich sein. Diese Probleme und die mit ihnen hadernden Menschen ernst zu nehmen, gehört auch zur gesellschaftlichen Gesamtverantwortung. „Spuren der Unmenschlichkeit“ hilft, sie überhaupt erst einmal zu erkennen.

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Robert Pfaller: Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form

Robert Pfaller: Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Robert Pfaller: Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form

In seinem Buch „Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form“ zeigt der Philosoph Robert Pfaller, in welch vielfältigen Lebensbereichen Formen zum Einsatz kamen (und stiefmütterlich heutzutage noch kommen). Er verfolgt unterschiedliche Ansätze, um Inhalt und Form zu definieren und streift dabei die Kunst ebenso wie die Mode, die Politik oder das soziale Zusammenleben.

 

Form und Inhalt sind nicht nur zusammengehörig, sie bedingen einander. Dabei ist die Form aber nicht bloßer Ausdruck von Ästhetik oder notwendiger Struktur; sie erweist sich ebenso als Berührungspunkt zum Rezipienten wie als konkretes Handlungselement der Sache. Das erklärt der Autor, indem er z.B. den Formalismus des Witzes als solchen beleuchtet oder auf soziale Höflichkeits- und Umgangsformen verweist. Kunst, besonders solche, die politische Ausdruckskraft haben soll, benötige daher eine geeignete Form, damit sich ihre Wirkung gezielt entfalten kann. Pfaller zieht dafür oft Beispiele aus der Fotografie hinzu und versucht, an diesen die Koexistenz zwischen Form und Inhalt, Wahrheit und Lüge sowie Schein und Sein zu vermitteln.

 

Obwohl die Sprache des Buches sehr klar und verständlich genutzt wird, verweist der Autor sehr oft auf Anektoden oder Begebenheiten, welche dem gewöhnlichen Leser ohne Kenntnis der Werke klassischer Philosophie als vollendet präsentiert werden. Zwar wird der Leser durch einen roten Faden durch die Kapitel geführt und immer wieder auf die Kovalenz von Inhalt und Form zurückgebracht, doch ergibt sich durch die Wahl der Beispiele nur eine vage Ahnung, welche Bedeutung in Pfallers Ausführungen verborgen liegt. Man hofft auf praktischere Beispiele, die sich nicht innerhalb weniger Zeilen abhandeln lassen und die mehr Substanz haben als zwei Kalauer oder drei Schwarz-Weiß-Fotografien. Besser wäre es möglicherweise gewesen, mehr an der Sprache selbst, welche die Rezipienten durch das Medium Buch automatisch verwenden, die eigenen Positionen zu festigen.

 

Da es sich um ein theoretisches Konstrukt handelt, welches aufruft, die Form wieder ins Leben zu integrieren – denn der Autor ist der Überzeugung, dass dem Inhalt in jeder Hinsicht seit Jahrzehnten der Vorzug gegeben wird – dauert es auch etwas, die Ausführungen selbst zu erfassen und zu durchdenken. Ich habe, nachdem ich dass Buch das erste Mal gelesen hatte, nochmal anfangen müssen – beim zweiten Mal hatten sich mir die Ideen Pfallers dann erschlossen. Gewissheit hatte ich allerdings erst, nachdem ich selbst, den Eingebungen der Lektüre folgend, mehr auf die Form in meinen Texten geachtet habe. Wer also nicht musiziert, modelliert, literarisch schreibt oder sich im Bereich der darstellenden Künste bewegt, wird vermutlich Schwierigkeiten haben, direkten Nutzen aus dem Buch für eigene künstlerischen Arbeiten zu ziehen.

 

Dennoch spannt Pfaller auch einen größeren, gesellschaftlichen Bogen. Ohne Rücksicht auf die Form werden wir das verlieren, was wir als Anstand und Sitte kennen, werden wir uns in unserer Empathiefähigkeit einschränken und den öffentlichen Raum verlieren. Der öffentliche Raum ist allerdings der Ort, wo wir die kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften unserer Spezies entwickelt und verfeinert haben. Mit dem Verlust der Form und ihrer spielerischen Komponente werden wir auch ein großes Stück unserer Freiheit verlieren.

 

Trotz der oben genannten Schwächen ist die Lektüre für alle geeignet, die bei der Erschaffung von Kunst keinem reinen Formalismus frönen wollen. Robert Pfallers Betonung der Form kann helfen, die Interpretation und Rezeption der Dinge in einem neuen Licht (wieder) erstrahlen zu lassen.

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Franz Keller: Ab in die Küche. Wie wir die Kontrolle über unsere Ernährung zurückgewinnen

Franz Keller: Ab in die Küche. Wie wir die Kontrolle über unsere Ernährung zurückgewinnen

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Franz Keller: Ab in die Küche. Wie wir die Kontrolle über unsere Ernährung zurückgewinnen

 „Ab in die Küche“ titelt Franz Keller in seinem neuesten Buch. Dabei präsentiert sich der Haupttitel wie die Geschmackskombination eines raffinierten Gerichts: Mit Humor gewürzt, unaufgeregt einfach und natürlich, dennoch mit etwas moralischer Strenge als Beigeschmack.

 

Keller, dessen Lokale und Restaurants mit Michelin-Sternen prämiert wurden, setzt seinen eingeschlagenen Weg der Rückkehr zu Genuss und Qualität fort. Seine Forderungen nach artgerechter Tierhaltung und der Abkehr von großindustriell hergestellten Produkten klingen nicht neu, stoßen sie doch ins gleiche Horn vieler Tier- und Verbraucherschützer. Doch möglicherweise unterstreicht die Tatsache, dass hier ein Sternekoch, quasi ein „Halbgott in Küchenweiß“, seine Meinung kundtut und Stellung bezieht, die Dringlichkeit die Verhältnisse zu ändern. Die Wirkung bleibt nicht aus, gewiss auch, da der Autor sich privat öffnet und der Koch Keller dem Mensch Keller stellenweise weicht.

 

Dieser Mensch lenkt unser Augenmerk auf skandalöse Zustände im Gastronomiebetrieb und präsentiert uns die Rückzugsmöglichkeit der eigenen Küche. Da Kochen auch eine Kulturtechnik sei, solle wieder aus eigener Kraft und Kreativität ein Stück Lebensqualität und Verantwortung für das eigene Leben zurückerobert werden. 

 

Manch Leser könnte auf die Idee kommen, dass hier „Brust oder Keule“, die 1976 erschienene Satire Claude Zidis literarisch fortgeführt wird. Dem ist nicht so: Kellers Ausführungen sind immer grundlagenbetonend und bodenständig. Getreu dem Titel seiner Autobiografie „Vom Einfachen das Beste“ möchte er auch den Leuten Mut geben, die sonst einen großen Bogen um Ofen und Herd machen.

 

Dies gelingt ihm nicht auf ganzer Linie. Obwohl die Gestaltung des Buches durch die z.T. an Tafelbilder erinnernden Sprüche genial einprägend ist und Keller einige Rezeptideen beilegt, verfällt er jedoch in den allgemeinen Küchenjargon. Natürlich, die Freude am Kochen wird auch durch das Experimentieren getrieben, doch weiß der Teenager auf Junkfood-Trip wirklich etwas mit „Zwiebeln anschmelzen“ anzufangen?

 

Dennoch ist Kellers Buch eine erfrischende und notwendige Bejahung ökologisch sinnvoller und zukunftsträchtiger Entwicklungen. Danken wir ihm, dass in unseren Küchen wieder Genuss einkehren soll, dass sich Geschmack und Nachhaltigkeit verbinde – und kommen sie „nur“ zum selbst gemachten Fleischsalat zusammen. Das Essen ist und bleibt ein zentraler Bestandteil unseres Lebens – somit hat jeder Grund genug sich damit, und sei es nur aus Eigeninteresse, auseinanderzusetzen.

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Horst-Eberhard Richter: Flüchten oder Standhalten

Horst-Eberhard Richter: Flüchten oder Standhalten

Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Horst-Eberhard Richter: Flüchten oder Standhalten

Der namenhafte Arzt und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter stellt in seinem Werk „Flüchten oder Standhalten“ einige zentrale Aspekte menschlicher Verhaltensweisen dar. Allen voran beschreibt er beispielhaft, mit welcher Ursache und Wirkung Isolationsprozesse stattfinden und Ängste im Individuum geschürt werden. Sein Werk dient ebenso als Informationsquelle wie als Anleitung, eigenen oder fremden Sehnsüchten nach sozialer Teilhabe zu entdecken, zu verstehen und zu akzeptieren.

 

In 14 Kapiteln veranschaulicht er die Entstehung von vornehmlicher Isolationsangst, beginnend beim Individuum bzw. der Familie und beschreibt, in welchen Formen diese Angst von einer Person zur anderen weitergegeben wird. Diese Transfermechaniken weitet er später auf übergeordnete Machtpositionen aus; auf Vorgesetzte oder Autoritäten bzw. stellvertretende Institutionen. Ferner diskutiert und reflektiert der Autor, inwieweit der Mensch als Interessenobjekt sozialer Berufe, z.B. im Pflegedienst, der Seelsorge oder dem Schulwesen, aus dem Fokus der Arbeitstätigen gerückt wird, falls bürokratische Prozesse von oben bzw. dogmatische Machtstrukturen greifen.

 

Das Buch ist stringent geschrieben und verfolgt eine logische Argumentationskette. Die beispielhaften Erläuterungen heben den sonst eher wissenschaftlich ausführenden Stil auf ein verständliches Niveau. Obwohl sich den Themen oft psychoanalytisch genährt wird und wissenschaftliche Referenzen die Hypothesen stützen, ist das vorliegende Werk für alle mit gut ausgeprägtem Allgemeinwissen (S. Freuds Theorie des Über-Ichs sollte bekannt sein) zugänglich. Leider hat das Lektorat eine ganze Reihe von Rechtschreibfehlern übersehen, die bei einem solch qualitativ hochwertigen Autor und Produkt nicht entschuldbar sind.

 

Im Ganzen kann der Rezensent allen Leuten, die in sozialen Berufen tätig sind, die Lektüre empfehlen. Sie dient dazu, sich darüber klar zu werden, warum man die Arbeit mit und am Mensch gewählt hat; hilft in unsicheren Zeiten, sich auf diese Motivation zurückzubesinnen – und zeigt die Möglichkeit, basisnahe, übergreifende Arbeit durchzuführen. Wir sollten uns immer wieder vergegenwärtigen, dass echte Partizipation für ein menschenwürdiges Zusammenleben auf allen Ebenen angestrebt werden muss.

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