Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

Anreas Böhm: Teuflische Schatten. Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha

Nimmt man eine biographische Erzählung zur Hand, erwartet man eine Lebensgeschichte, die es wert ist gelesen zu werden. Man wünscht sich neue Erkenntnisse, Einblicke in fremde Welten, Stimmungen und Gefühle, die unter die Haut gehen. Liest man “Teuflische Schatten” von Andreas Böhm, werden diese Anforderungen nicht nur erfüllt, sondern überboten.

 

Aus Interviews mit Sandra López, der erzählenden und handelnden Stimme des Buches, schrieb Böhm ein Schicksal auf, das stellvertretend für viele andere Menschen aus Zentralamerikas erzählt: Von Wünschen und Sehnsüchten, die sich im Einzelnen regen; von Ängsten und Entbehrungen, die auf sich genommen werden; von der Hartnäckigkeit, mit der sich soziale Gefüge bilden und bewähren müssen.

 

Sandra, aufgewachsen in einer Familie mit mehr Münder als gut bezahlte Arbeit findende Hände, beschreibt ihre Kindheit in Palencia, nahe bei Guatemala-Stadt gelegen. Obwohl das Leben hart ist und Streit die Mitglieder der Familie entzweit, versucht sie das Beste aus ihrem Leben zu machen und besucht die Schule. Selbstverständlich wendet sie sich beim Heranwachsen von allem ab, was die ältere Generation ausmacht, bricht ihre Ausbildung ab und findet Platz unter gleichgesinnten Jugendlichen. In ihre Clique sucht sie nach einer Zukunft, nach Liebe und dem, was das eigene Selbst ausmacht.

 

Dabei jedoch beginnt das Böse in Gestalt von kriminellen Jugendbanden langsam Wurzeln in Guatemala zu schlagen. Sandra gerät immer tiefer in den Strudel aus Gewalt, Verrat und Mord. Angst lähmt sie und reiht sie in die Masse derer ein, die die Augen verschließen. Was soll man auch tun, wenn weder Staat noch Religion vor den Gefahren schützen können, die vor der eigenen Haustür lauern?

 

Das Blutvergießen geht weiter und bald steht sie zwischen den Fronten: ihre Familie gegen die Mara Salvatrucha – Mutter, Geschwister, Großeltern und Tanten gegen Bekannte oder Freunde, mit denen sie sich identifiziert hat und die sie bei sich aufgenommen hatten.

 

Der Untertitel verrät dem Leser, dass es zwei Frauen sein werden, die sich dem Kampf um Würde, Freiheit und Glück verschreiben. Die zwei zentralen Fragen, die die Spannung des Buches über eine erzählte Zeit von fast 30 Jahren aufrecht halten, beschäftigen sich mit der Identität der zweiten Frau und dem Werdegang Sandras zu der Person, die am Ende den Entschluss gefasst hat, das Schweigen zu brechen.

 

Wie wurde aus dem Kind, das in einer zwar abgeschiedenen, aber auch beschaulichen Umgebung aufgewachsen ist, die jugendliche Rebellin, die fürsorgliche Mutter, die stille Mitwisserin und die müde, ausgelaugte Frau, die Böhm bei seinem letzten Interview vorfand?

 

Durch die beschränkte Erzählperspektive findet sich der Leser mit der Ungewissheit wieder, der Sandra alltäglich ausgesetzt ist. Jeder Tag kann das Ende markieren, jeder Schritt ein Risiko sein. Man kann nicht sagen, ob Böhm Sandras Gedanken komplexer schildert, als sie zur Zeit der Geschehnisse dazu in der Lage war. Vielleicht verflechtet er auch geschickt die Erinnerungen der jetzt klügeren Frau. Die Resultate jedenfalls sind ergreifende Bilder und nachfühlbarer Schmerz.

 

Die Berichte fassen die Ereignisse detailgetreu ab; Metaphern passen zeitlich und räumlich in das Bild der Umgebung. Da die Familie Sandras einziger Halt ist, erlebt der Leser oft Streit und Versöhnung. Was auf den ersten Blick als monoton wiederkehrendes Ereignis wirkt, entpuppt sich aber als nackte, schonungslose Alternativlosigkeit. Erst dann dämmert es Leser und naiver Protagonistin: Die Maschen des Netzes aus Gewalt und Kriminalität haben sich bereits eng um sie geschlungen.

 

Andreas Böhm, freier Autor und Journalist, hat viel Zeit und Mühe in dieses Buch gesteckt. Die Lektüre zeigt nicht nur aktuelle Probleme auf, die sich z.B. in den immer wieder auftauchenden Berichten über die Drogenkriege in Mexico niederschlagen, sondern beschreibt und definiert den Begriff der Würde von einem ebenso persönlichen wie allgemeinen Standpunkt in klein- und großsozialer Form. “Teuflische Schatten” hebt dabei subtil den Zeigefinger: Es ist Gedenken und Mahnmal, persönlich und allgemein. Ein komplexes Werk, dass hoffentlich dazu beiträgt, Mut zu fassen. Den Kampf gegen die Schatten aufzunehmen, die weltweit geworfen werden.

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