Rezension von Oliver Guntner

KULTURKOLORIST

 Lucian Blaga: Die Fähre des Popen Charon

„Das Mehl war warm, leicht erhitzt, wie ein lebendiger Körper, sowohl angenehm als auch archaisch der Duft.“ […] <<Noah ist Müller geworden!>>
Lucian Blaga (1895 – 1961), rumänischer Dichter, Schriftsteller, Diplomat und Philosoph, schildert in seinem erst 1990 bei Humanitas Bukarest erschienenen Roman liebevoll und detailreich Episoden aus dem Leben seiner Mitmenschen. Der Titel der deutschen Übersetzung „Die Fähre des Popen Charon“ ist dabei klug gewählt: Er symbolisiert das Grundmotiv des Romans, den Wechsel und Wandel, die Überfahrt von einer Zeitepoche zur anderen und die Veränderung der Persönlichkeit, initiiert durch gewaltsame, äußere Einflüsse.
Blaga spielt seinem fiktiven Erzähler Axente Creangă tatsächlich die Rolle des biblischen Noah zu: Im Verlauf der Nachkriegsjahre trifft Axente seine Landsleute, beleuchtet ihre Rolle und ihr Schicksal in der neuen Welt der kommunistischen Volksrepublik. Er, der patriotische Poet, bezeugt in zahlreichen Berichten und Naturbeschreibungen den Niedergang seines Vaterlandes und belegt den Umbruch der Historie am Versiegen der eigenen Quelle künstlerischen Schaffens. Als Ausweg aus dem Chaos äußerlicher wie innerlicher Veränderungen sieht Axente nur die Möglichkeit auszuharren und sich auf moralische Werte und Traditionen zu berufen, damit eine Flucht in die Zeit des Gestern gelingen kann, aus welcher die Gegenwart zu altem Glanz erneuert werden soll.
Zur Seite stehen dem Erzähler sein geistiger Zwilling Leonte und seine lyrische Muse Ana. Während Blaga die eigenen philosophischen Ansichten und Diskurse der Figur Leonte in den Mund legt, schafft er mit Ana ein Symbol der geheimen, ursprünglich mystischen Natur, der unerreichbaren Versuchung. Durch dieses Dreigespann – Axente, Leonte, Ana – ; offeriert Blaga den Lesern rumänische Traditionen, ihre Kunst und ihr Denken. Diese drei Personen erkennen, bewahren, veredeln sie und erheben sie auf eine Stufe bar jeder Nationalität: Die Liebe und das Leben sind unsagbare Geschenke.
„Die Fähre des Popen Charon“ ist eine zeitlich geordnete, kausal stimmige, allerdings nur lose Aneinanderreihung von Reminiszenzen. Die Prosasprache Blagas ist nuancenreich und bildhaft, dabei jedoch klar. Poetische Einschübe wie „die seelische Frucht an der Spitze der Wimper“ werden nur selten gebraucht. Der anfangs zitierte Auszug dieser Rezension stammt aus einer Szene, die in ihrer Schlichtheit so akzentuiert beschrieben ist, dass sie den Lesern bis zum Ende des Buches im Gedächtnis bleiben wird. Durch die strikte Einflechtung rumänischer Anreden und Ortsbezeichnungen in den übersetzten Text entwickelt sich beim Lesen eine Art Vertrautheit. Die Grammatik wirkt in den Einschüben und Gerundia anfangs etwas holprig – aber auch hier wird das Exotische bald zu einem versöhnlich-fremden Ton gewandelt. Dank des Übersetzers der deutschen Ausgabe, Friedrich Engelbert, rumänischer Romanist, verfehlen selbst Wortspiele nicht ihre schelmische Wirkung und ermöglichen eine Differenzierung der Charaktere auf einer zusätzlichen Verständnisebene.
Der Symbolgehalt des Romans ist enorm. Die titelgebende Fähre selbst zerteilt das Buch in drei Abschnitte. Ähnlich einer Überfahrt startet Axente in den ersten sechs Kapiteln des Buches, reist durch das Land, berichtet ausführlich über die vergangenen Tage, sucht seinen Platz in der Gesellschaft, verteidigt seine Integrität. Der Leser sieht den alten Glanz der Persönlichkeit Axentes bröckeln, verursacht durch die historische Umwälzung, durch Ungewissheit, Flucht, der Ohnmacht des Individuums in der gesellschaftlichen Welt. Während Axente mit seiner Familie und seinen Freunden ihren Platz suchen und den neuen Spielregeln der sich ihnen entziehenden Mächte ausgesetzt sind, wächst im Erzähler die Sehnsucht nach den vergangenen Tagen.
Mit dem Erscheinen der Fähre, des Popen und seiner Frau, wandelt sich der bisherige Erzählstil Blagas. In den folgenden Kapiteln wird deutlich mehr wörtliche Rede verwendet; die Berichtsform tritt in den Hintergrund, den Ereignissen folgen schlagartig Konsequenzen. Die Fährfahrt ist eine Bewegung, ein Übersetzen an das andere Ufer, ein notwendiger Schritt auf dem Weg Axentes. Haben die ersten Kapitel des Romans hauptsächlich das Leben gezeigt, tritt hier das Motiv der Liebe verstärkt auf und zieht Tragödien mit sich. Die Frau des Fährmanns, Octavia, bildet den Gegenpol zu Ana ab. Axentes Beziehung zu ihr stellt den Versuch dar, die Suche nach dem Gestern aufzugeben und sich der Moderne anzupassen.
Mit Vollendung des zwölften Kapitels verlässt Axente die Fähre, um an das neue Ufer zu treten. Wieder ändern sich Thematik und Inhalt; die Waage zwischen Dialog und Bericht wird gehalten, die Liebe selbst wird zentrales Motiv der nachfolgenden Kapitel. Sie ist dem Leben überlegen, welches nach und nach aus der Welt Axentes scheidet, da er sich in sein eigenes Reich zurückzieht, zurück in die Vergangenheit und zurück zu seinen alten Sehnsüchten.
Beeindruckend ist die Fülle an Details, mit der Blaga die Erzählungen und Episoden seiner Hauptfiguren ausschmückt. Manchmal scheinen sie den Leser auch unter ihrem Gewicht zu erdrücken. Jedoch generiert sich auf diese Weise ein lebendiges, engmaschiges Netz an Eindrücken, welche ein versöhnliches Ende für die Reise Axentes und seiner metaphyischen Gralssuche, knüpfen. Der Übersetzer der deutschen Ausgabe, Friedrich Engelbert, hat dem Roman im Anhang Gedichte und Briefe zwischen Axente und Ana sowie zwölf Essasys Leontes (also aus der Feder Blagas stammend) angefügt. Diese Anhänge im Buch unterzubringen, hätte das Werk überfrachtet – jedoch ist der Einblick in die philosophische Niederschriften Blagas äußerst interessant. Seine wissenschaftliche Artikulation steht zwar in der Wahl der Wörter im krassen Gegensatz zu seinem Prosawerk, jedoch sind beide Dokumente ein historisch wertvolles, emotional ansprechendes und philosophisch anspruchsvolles Vermächtnis einer Epoche, deren Charme die tiefe Liebe und Verbundenheit mit der Natur ausmacht, mit der rumänischen Tradition und den Details, welche einen zufälligen Moment des Lebens plötzlich erinnerungswürdig machen können.

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